“Die Menschen wollen sich selbst finden, zu ihren Wurzeln zurückkehren und nicht mehr auf Instagram leben.” So lautet das sinngemäß wiedergegebene Zitat der amerikanischen Gründerin Melissa Butler auf die Frage, welche Trends für 2019 und in Zukunft gesellschaftlich und wirtschaftlich zum Tragen kommen. 1
Ob der Verzicht auf Medien und der Wunsch nach Reduktion im Mantel der Digitalisierung zukünftig tatsächlich so ausgeprägt sein wird, offenbart eine detaillierte Auseinandersetzung mit beiden sozial-technologischen Stoßrichtungen.
Das Zusammenwirken von Social-Media-Konsum und emotionalem Wohlbefinden
Was Eltern, Lehrer und andere besorgte Bürger länger vermuteten, hat sich inzwischen bewahrheitet. Der soziale Druck nach Anerkennung und Außendarstellung durch intensiven Social-Media-Konsum hat Auswirkungen auf die mentale Gesundheit der Konsumenten.
So haben britische Forscher bei einer Untersuchung mit Teenagern herausfinden können, dass es einen Zusammenhang zwischen Symptomen wie Schlafstörungen, geringem Selbstbewusstsein und depressiver Verstimmung und dem Ausmaß an Nutzung von sozialen Medien gibt. Mädchen (50%) seien vom intensiven Konsum mehr betroffen als Jungen desselben Alters (35%). 2
Auch bei Erwachsenen ab 18 Jahren und weit darüber hinaus konnte die Wechselwirkung zwischen Social-Media-Konsum und einem Anstieg der Depressionsrate festgestellt werden. Das beweist eine Langzeitstudie der American Psychological Association (APA) zwischen 2005 und 2017, bei der über 200.000 Jugendliche unter 18 Jahren und 400.000 Menschen im Erwachsenenalter untersucht wurden. Sogar ein Zuwachs suizidaler Gedanken konnte bei stärkerer Nutzung sozialer Medien nachgewiesen werden. 3
Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es allzu logisch, dass der Wunsch nach Reduktion und weniger Stimulation durch Medien zunimmt. Kein Wunder, weshalb immer mehr Urlaubsanbieter erholsame Zeiten in Einrichtungen anbieten, die unter dem Motto “Digital Detox Holiday” laufen. Eines der ersten Digital-Detox-Camps soll das sogenannte “Camp Grounded” gewesen sein, dessen Initiatoren paradoxerweise aus Silicon Valley stammen. 4
Inzwischen gibt es zahlreiche weitere Angebote mit dem Fokus der digitalen Entgiftung, seien es Hotels ohne W-Lan-Zugang, spezielle Yoga- und Wellness-Retreats, fokussierte Coaching-Programme oder andere Formen des Offline-Urlaubs. 5
Ein weiterer Beleg für den verstärkten Wunsch nach Reduktion und Entschleunigung ist die “Achtsamkeitsbewegung”, welche vom Fernosten immer mehr in die westlichen Industrieländer überschwappt. So besaß der deutsche MSBR-Verband (Mindfulness-based stress reduction) im Jahr 2017 bereits 680 qualifizierte Achtsamkeitslehrer als Mitglieder und soll jährlich um etwa 25% ansteigen. 6
Die Nachfrage zur Selbstfindung und der “Rückkehr zum Wesentlichen” außerhalb exzessiver (Online-)Medien ist nachvollziehbar und belegt. Gleichzeitig weisen Zukunftsforscher und die sich stetig weiterentwickelnde Digitalisierung darauf hin, dass der Wunsch nach Entschleunigung durch rasante Datenverarbeitung innovativer Technologien wie Blockchain, Internet of Things oder K.I. (Künstliche Intelligenz) ausgeglichen wird.
Ob wir in Zukunft nur noch “am echten Leben” teilnehmen, ist eher unwahrscheinlich. Nichtsdestotrotz könnte sich die Art und Weise, wie und in welchem Ausmaß wir Medienkonsum umgehen, dramatisch ändern.
6 mögliche Trends der zukünftigen Mediennutzung
Das Kölner Rheingold-Institut führte im Auftrag der WDR Mediagroup eine Studie zum Thema „Mediennutzung 2024“ durch. Daraus ergaben sich spannend zu beobachtende Trends, die zum Teil dem Gegenteil der aktuell präsenten, übermäßigen Selbstdarstellung und der übermäßigen Nutzung von Social-Media entsprechen.
Ein wesentlicher Aspekt der wissenschaftlichen Befunde stellt den Wunsch nach Reduktion in Bezug auf Geschwindigkeit, Ausmaß und Vielfalt der medialen Nutzung heraus. Gleichzeitig nimmt die Konzentration auf Selbstkontrolle und „das Wesentliche“ zu, was sogar bis zum kompletten Medienverzicht führen kann.
Konkret benennt die qualitativ-psychologische Befragung sechs zu erwartende Trends für die Mediennutzung im Jahr 2024. Da die Studienergebnisse auf Befürchtungen, Ängsten, Wünschen und anderen psychologischen Dynamiken der Teilnehmer beruhen, dürften sie für Medienanbieter und Werbetreibende jeglicher Art von Bedeutung sein, die den Ansprüchen der Medienkonsumenten der Zukunft gerecht werden möchten.7, 8
Flexibilisierte Nutzung – Online- und Offline-Medien sollen immer flexibler genutzt werden. Ort und Zeitpunkt der Aufnahme von Medien, die Intensität und Länge der Formate, Auswahl der Endgeräte und andere Parameter entwickeln sich zu neuen „Nutzungskontexten“, die Medienanbieter an die flexiblere Nutzung der Konsumenten anpassen dürfen.
Multi-Channel-Angebote, die oberflächliche und tiefgreifende Themen gleichermaßen bedienen, könnten diese Anforderungen erfüllen. Der Konsument soll also die Wahl haben, kurz durch das Programm zu „zappen“ oder näher „hineinzoomen“ zu können.
Personalisierte Programme – Der Rückzug in personalisierte Welten wird laut Studie weiter zunehmen. Anstelle des Durchzappens und Durchstöberns ohne Ziel nehmen die „customized“ Formate weiter zu, die sich auf die Gefühlslage und Geschmacksrichtung des Konsumenten anpassen und diese individuell fokussieren.
Das erkennen wir bereits heute beim Streaming-Riesen Netflix oder der Videoplattform YouTube, die dem Nutzer Videos, Serien oder Filme vorschlagen, die auf dem Genre der zuvor angesehenen Filmformate beruhen.
Sinnvolle Vereinfachung – Reduktion und das Besinnen aufs Wesentliche sollen weiter zunehmen. Die „einfache Nutzung“ soll weiterhin Bestandteil der Medienangebote sein. Das betrifft einheitlich die Installation, Verwaltung und Vernetzung von Geräten und Inhalten. Andererseits soll die einfache Nutzung im Sinne von „eins nach dem anderen“ zunehmen.
Radioinhalte sollen demnach eine Art Renaissance erfahren, die gleichzeitig eine Reduktion von Reizen widerspiegelt. Diese Entwicklung ist bereits am starken und nach wie vor präsenten Boom der Podcasts und Online-Radioshows zu erkennen. 9
Kuratierte Vielfalt – Passend zu den personalisierten Programmen werden die Medienanbieter und „Content-Creator“ laut Erhebung noch facettenreicher, was das Bereitstellen von Angeboten angelangt, um die individuellen Bedürfnisse der Konsumenten zu stillen. Gleichzeitig wünschen sich Suchende schnell auffindbare und qualitative hochwertige, vertrauenswürdige Inhalte passend zur Nutzungssituation, was sich beim Überangebot der Online-Welt als Herausforderung entpuppen könnte.
Mitbestimmung und –gestaltung – Die Mitwirkung an Medieninhalten wird gemäß der Befragung zunehmen. Immer mehr Konsumenten sollen zu Produzenten werden, die sich durch Interaktivität, Dialoge oder eigens kreierte Inhalte zur Geltung bringen. Das steigere die Selbstwirksamkeit sowie die Sinnstiftung. Diese Art der Mediennutzung und –darbietung soll schließlich zu mehr Bindung und Involvierung führen.
Gesteigerte Erlebnisqualität – Medienanbieter sollen es zunehmend schwer haben, die Konsumenten der Zukunft durch qualitativ hochwertige Inhalte zu fesseln, weil der fragmentierte Alltag und die flexible sowie personalisierte Nutzung ebenfalls zunehmen. Während die Personalisierung eher dazu führt, die Rezipienten zu isolieren und zu vereinsamen, sorgt der Drang nach Mitbestimmung für ein Gefühl der Gemeinschaft.
Im Umkehrschluss stehen Werbetreibende vor der Herausforderung, beide Konsumtrends unter einen Hut zu bringen und daraus qualitativ hochwertige Inhalte zu erschaffen, die langfristig binden und das Hin- und Herschalten zwischen mehreren Werkzeugen der Mediennutzung zu reduzieren. Selbst mediale Großevents wie ein übertragenes Fußball-WM-Spiel wird heute bereits durch Live-Kommentare auf Twitter und Facebook begleitet. 10
Widersprüche könnten in Zukunft Normalität werden
Einige Zukunftsforscher prägen im Zusammenhang mit der Digitalisierung gerne den Begriff VUCA-Welt und beschreiben damit ein Abbild der Gesellschaft als Folge der aufkommenden innovativen Technologien.
Dabei handelt es sich um ein Akronym, das sich in voller Version aus den Worten „Volatility“ (Volatilität), „Uncertainty“ (Unsicherheit), „Complexity“ (Komplexität) und „Ambiguity“ (Mehrdeutigkeit) zusammensetzt. Der Begriff wurde in moderner Weise geprägt, um Führungskräfte auf die technologischen Entwicklungen der Digitalisierung besser vorzubereiten, obwohl er in erster Linie im Sprachgebrauch des amerikanischen Militärs in den 1990er Jahren geprägt und anschließend adaptiert wurde. 11
Mit Hinblick auf die sechs prognostizierten Trends für die Mediennutzung 2024 könnten die Ausprägungen die Welt der Konsumenten weiterhin volatiler, komplexer, unsicherer und mehrdeutiger werden. Das erkennt man bereits heute an dem Bedürfnis nach Personalisierung und Reduktion einerseits und dem Drang nach Vielfalt und Mitbestimmung andererseits.
Unternehmen und Führungskräfte wirken dieser gesellschaftlichen Verhaltenstendenz laut Experten ebenfalls durch das Akronym VUCA entgegen, worunter die Empfehlungen "vision" (Vision), "understanding" (Verstehen), "clarity" (Klarheit) und "agility" (Agilität) befolgt werden sollen. 12
Die Betonung von Unternehmenswerten, Purpose-driven-Marketing und die Agilität in den Arbeitsabläufen ist heute bereits präsent. Das beweist unter anderem die Zunahme von Home-Office-Jobs und "Digital Work" durch virtuelle Meetings und andere Arbeitsprozesse, die mittlerweile “digitalisiert” wurden.
Fazit:
Wir werden wahrscheinlich weiterhin auf Instagram oder vergleichbaren Social-Media-Plattformen vertreten sein. Die moderne Mediennutzung könnte sich tendenziell allerdings bewusster und flexibler gestalten, als dies bisher der Fall ist.
Vermutlich wird die "Schere" zwischen Entschleunigung durch Achtsamkeit im Alltag und Digital-Detox-Camps und vergleichbare Initiativen zur Reizreduktion medialer Stimuli sowie die Beschleunigung von Datenverarbeitung durch innovative digitale Technologien wie Künstlicher Intelligenz, Blockchain oder personalisierten Programmen weiter auseinander gehen.
Zumindest weisen Prognosen, Studien und entsprechende Trendverläufe darauf hin. Wie genau die Mediennutzung in Zukunft aussieht und ob es die heutigen Social Networks in dieser Form dann noch geben wird, kann nur mit Sicherheit konstatiert werden, sobald wir in dieser leben.
Quellen und wissenschaftliche Studien:[1] https://www.linkedin.com/pulse/30-big-ideas-f%C3%BCr-2019-%C3%BCber-diese-trends-werden-wir-n%C3%A4chstes-schulz/
[2] https://www.br.de/puls/themen/netz/studie-zu-depressionen-und-soziale-medien-netzwerke-100.html
[3] https://www.focus.de/kultur/leben/studie-belegt-zusammenhang-zwischen-social-media-und-depressionen_id_10492251.html
[4] https://www.noz.de/deutschland-welt/gut-zu-wissen/artikel/1040899/wie-wirksam-ist-der-digital-detox-urlaub#gallery&0&0&1040899
[5] https://www.handelsblatt.com/unternehmen/beruf-und-buero/buero-special/urlaub-ohne-arbeitsstress-so-geht-urlaub-digital-detox-holiday/8435668-3.html?ticket=ST-1486935-rMJ3m6J7o4YTf3ogxjX3-ap4
[6] https://www.mbsr-verband.de/fileadmin/user_upload/PDF/momentbymoment_01-2017_beitrag_guenterhudasch.pdf
[7] https://wdr-mediagroup.com/download/spezialmodule/dokumente/Studie_Mediennutzung2024_Broschuere.pdf
[8] https://www.presseportal.de/pm/59521/2845670
[9] https://medium.com/@FrederikFischer/podcasting-ist-die-wiedergeburt-der-blogs-studie-zum-amerikanischen-podcast-boom-3627ee5d66c6
[10] https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/270672/medienereignis-fussball-wm
[11] https://www.vuca-welt.de/woher-kommt-vuca-2/
[12] https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/vuca-119684